Die Frage, die niemand stellte

Kurz-Fantasy für stille Vorweihnachtsabende - mit Illustrationen von IVE

Gregory, der Weihnachtsbaumverkäufer. Grafik von IVE

Es gab Fragen, die einfach niemand stellte. Wahrscheinlich lag das daran, dass die Antworten oft keine Bedeutung hatten. Manchmal aber hatten sie doch eine und die Menschen dachten nur, dass es anders war. Gregory jedenfalls wunderte sich nicht mehr darüber, dass in all den Jahren nie jemand hatte wissen wollen, was er tat, wenn nicht gerade Adventszeit war. Welchen Beruf Gregory hatte, wo er wohnte oder wer er wirklich war. Für die meisten war er nur ein Weihnachtsbaumverkäufer, bestenfalls Gregory, der Weihnachtsbaum-verkäufer. Ein alter Mann im abgewetzten Wollmantel, mit zu kleiner Mütze, buschigen Ohrwärmern und einer viel zu dicken Nase. Sie war rot vor Kälte und wollte irgendwie nicht zu den kleinen, dunklen Augen passen. Jahr für Jahr stand Gregory pünktlich ab dem ersten Dezember am Straßenrand. Ein dünner Gitterzaun schirmte seinen Weihnachtsbaumverkauf von der Fahrbahn ab. Es roch nach Harz, Sägespänen und frischen Nadeln. Dicht an dicht, in Netze verpackt, lagen die Fichten, Tannen und Kiefern übereinander. Ein paar wenige waren offen. Gregory hatte sie in eiserne Ständer gepresst, soweit es eben ging. Denn der Netztrichter, mit dem er vorgeführte Bäume wieder einpacken musste, brauchte reichlich Platz auf seinem Verkaufsstand.


Nicht, dass Gregory allzu viel zu tun gehabt hätte. Dieses Jahr lief das Geschäft nicht so gut. Genauso wie letztes Jahr und in den Jahren davor. Die anderen Verkäufer hatten bessere Ware als er. Und sie verkauften an guten Plätzen in der Stadt und an Einkaufszentren. Dort flimmerte und flackerte es zu dieser Zeit schier überall in Schaufenstern, über den Straßen, bunt und weihnachtlich. Es duftete nach Glühwein und Keksen. Und es wimmelte von Menschen mit Tüten und Taschen, die eilig durch den Schneematsch stapften. Da konnte man viele Bäume für viel Geld verkaufen. Aber hier? An einem Ort fernab von allem Weihnachtlichen, am Rande der Stadt? Dort, wo früher der Sangius-Brunnen stand, den alle so gefürchtet haben?

Seit 148 Wintern war das so mit Gregorys Weihnachtsbaumverkauf. Und noch nie in dieser Zeit hatte jemand die Frage gestellt, die für den alten Mann mit dem abgewetzten Mantel und der dicken Nase so viel bedeutete: Was tat er eigentlich außerhalb der Adventszeit?


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„Wir möchten bitte einen Weihnachtsbaum“, sagte die hagere, ältere Dame. Zwei schmale Augen zwinkerten nervös hinter dicken Brillengläsern. Sie zog den lilafarbenen Schal fester um ihren Hals, als würde das ihrem Wunsch Nachdruck verleihen.
„Ach was?“, murmelte Gregory.
„Einen schönen“, fügte ein korpulenter Mann mit Halbglatze und rosigen Backen fröhlich hinzu.
„Fichte, Kiefer, Nordmanntanne?“, fragte Gregory pflichtbewusst und wusste augenblicklich, dass dies eine längere Angelegenheit werden würde. Und tatsächlich: Alle Bäume, die er zeigte, waren zu dicht, zu dürr, zu groß, zu klein, zu unförmig, einer sogar zu harzig. Mit dem Versprechen, man würde sich das über Nacht noch einmal durch den Kopf gehen lassen, verabschiedete sich das Paar nach einer geschlagenen Stunde.
„Aha“, brummte Gregory, hob den Ohrwärmer an und kratzte sich ausgiebig hinter dem linken Ohr. „Das geht ja gut los, dieses Jahr.“


„Nichts!“, blaffte die kratzige Stimme, die aus dem Dickicht kam. Dort, wo die meisten der in Netzen verschnürten Weihnachtsbäume lehnten, leuchteten zwei giftgrüne Augen. Boshaft waren sie. Und sie freuten sich diebisch.
„Was meinst du mit ‚Nichts‘, verfluchter Derwisch?“, polterte Gregory. Wenn es etwas gebracht hätte, dann hätte er mit dem abgesägten Stück Stamm einer Kiefer nach der teuflischen Kreatur geworfen.
„Aber das hatten wir doch besprochen, Gregory: Für dich und in der Vorweihnachtszeit bin ich kein Derwisch, sondern ein Weihnachtswichtel. Das ist viel schöner, viel passender, findest du nicht?“

Derwisch aus Mark Lanvalls Geschichte "Die Frage, die niemand stellte". Grafik: IVE

Gregory ignorierte die letzte Bemerkung.
„Was meinst Du mit ‚Nichts‘?“, wiederholte er.
Der Derwisch kicherte. Noch immer kauerte er zwischen den Zweigen, sodass der alte Mann nur die stechenden Augen sehen konnte. Aber das reichte ihm auch. Er kannte die Gestalt, jede hässliche Einzelheit. So lange begleitete sie ihn schon durch die Zeit.
„‚Nichts‘ ist die Antwort auf deine Frage, Gregory.

Du tust den Rest des Jahres über nichts. Rein gar nichts. Das liegt natürlich daran, dass du in dieser Zeit nichts bist. Es gibt dich gar nicht. Du bist noch nicht einmal tot, sondern einfach nur nicht da.“
Gregory seufzte.
„Als ob ich das nicht wüsste. Seit 148 Jahren lässt du mich für meine Sünde büßen, holst mich Jahr für Jahr ins Leben zurück - für 24 Tage. Dann muss ich wieder gehen, nachdem ich die Freude der Menschen gesehen habe, ihre glänzenden Augen, Behaglichkeit, Liebe ...“
„... Hektik, Stress, unerfüllte Erwartungen. Aber ja. All das, alter Gregory. Die ganze weihnachtliche Bandbreite“, ätzte die kratzige Stimme und kicherte noch einmal.
„Wann hat der Spuk denn nun ein Ende?“, rief Gregory lauter, als er eigentlich wollte.

Mit einem Satz war der Derwisch bei ihm, krallte sich an den Stamm einer Tanne, die neben Gregory und dem Netztrichter stand. Keinen halben Meter war er groß, seine ledrige Haut war fahl und grau, seine dürren Klauen scharf, die spitzen Ohren zitterten vor Hass. Die Stimme, obwohl Gregory sie so gut kannte, jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken.
„Du glaubst also, du hast genug gebüßt, alter Mann?“, zischte die Kreatur. Gregory spürte den warmen Atem, roch den fauligen Dunst. „Du glaubst, deine Schuld ist beglichen? Das ist sie nicht. Als ob es für deine Tat jemals Vergebung geben könnte! Du wirst weiter leiden, Gregory. Dass du nicht weißt, wann es endet, ob es jemals endet, macht dein Leid nur umso süßer für mich. Verkaufe Weihnachtsbäume, Gregory! Denn das ist alles, was du hast.“
Gregory kniff die Augen zusammen vor Zorn und vor Verzweiflung. Ein Schluchzen, das er nicht mehr unterdrücken konnte, quälte sich aus seiner Kehle.
„Aber, ich ertrag es nicht. Nicht mehr“, jammerte er und sah die hässliche Gestalt flehend an.
„Umso süßer“, hallte es nach und der Derwisch war verschwunden.


„Was ... Was ertragen Sie nicht?“
Eine junge Frau war gekommen, sah ihn verwirrt und auch ein bisschen ängstlich an. „Mit wem reden Sie?“
Ihr Blick ruhte auf dem Dickicht der Weihnachtsbäume, wo noch ein paar Zweige wippten. Hatte sie den Derwisch gesehen? Aber nein. Die Kreatur war stets zu vorsichtig, zu hinterlistig, um sich den Menschen zu zeigen. Nur Gregory verschonte sie nicht.
„Beizeiten führe ich Selbstgespräche“, antwortete er und versuchte dabei, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. „In meinem Alter ...“
Die junge Frau nickte erleichtert. Ihre großen braunen Augen sahen ihn freundlich an. Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die unter ihrer Mütze hervorgequollen war.
„Bitte“, sagte sie. „Ich möchte wieder einen Baum bei Ihnen kaufen. Der letzte war so schön.“
Gregory sah sie fragend an.
„Sie haben bei mir schon einmal einen Baum gekauft?“
„Letztes Jahr. Am Tag vor Weihnachten. Ich bin hier zufällig vorbeigekommen und hatte wenig Zeit. Deshalb habe ich bei Ihnen nach einem Baum gesucht, obwohl ...“
„... obwohl die Auswahl so schlecht war“, ergänzte Gregory und seufzte. Er konnte nur anbieten, was ihm der Derwisch erlaubte.
„Sie haben mir eine kleine Blaufichte gezeigt. Der Stamm war an einer Stelle krumm, die Spitze buschig. An einer Seite war er dicht, an der anderen das Gegenteil. Er kam mir hässlich vor. Aus der Not heraus habe ich ihn trotzdem gekauft.“
Der alte Mann runzelte die Stirn und legte skeptisch den Kopf zur Seite.
„Sagten Sie nicht, ich hätte ihnen einen schönen Baum verkauft?“
Die junge Frau lachte. „Aber ja. Kaum hatte ich ihn in meiner Wohnung aufgestellt, sah ich, wie seine Nadeln sattgrün leuchteten. Er passte perfekt in die Ecke, die ich für ihn vorgesehen hatte - als hätten Sie gewusst, wo ich ihn hinstellen würde. Und bis weit ins neue Jahr hinein hat er keine einzige Nadel verloren. Ich habe diesen Baum gemocht. Er war etwas Besonderes.“
„Etwas Besonderes“, wiederholte Gregory. Er war unfähig, etwas anderes zu sagen. Zu sehr hatten ihn die Worte der Frau überrascht. Und dann passierte etwas, das es seit unfassbar langer Zeit nicht mehr gegeben hatte: Er fing an zu lächeln. Erst fühlte es sich falsch an, als wäre es verboten. Aber dann ließ es Gregory zu. Er genoss es sogar.
„Kommen Sie mit! Ich zeige Ihnen, was ich da habe. Vielleicht finden wir auch in diesem Jahr wieder einen Baum für Sie“, sagte er und führte seine Kundin herum. Nur die besten Bäume, die er hatte, zeigte er ihr. Er kramte sie aus dem Dickicht, zerschnitt Netze, schüttelte Blätter und Schnee von den Ästen. Doch kein Baum schien der jungen, netten Frau wirklich zu gefallen.
„Wie ist es mit diesem hier?“, sagte sie plötzlich und holte eine kleinere Tanne hervor, deren Stamm im oberen Viertel derart verästelt war, dass er wie ein Dreizack aussah.
„Er ist ...“. Gregory zögerte.
„... etwas Besonderes“, ergänzte die Frau vergnügt. „Ich will ihn haben. Er ist mir sympathisch. Wer will schon einen perfekten Baum?“
„Na gut“, lachte Gregory, packte die Tanne in ein Netz ein und half der Frau, sie in ihr Auto zu laden. Er machte ihr einen guten Preis und lächelte noch immer, als er die Rücklichter schon längst nicht mehr sehen konnte. Was für eine unerwartete Freude, dachte er.
„Verkaufe Weihnachtsbäume, Gregory! Denn das ist alles, was du hast“, krächzte der Derwisch noch einmal.

Lara und Henry. Grafik: IVE

Das wird ein Artikel, dachte Lara. Eine Geschichte über einen Weihnachtsbaumverkäufer. So etwas sollte die Leute in der Adventszeit doch interessieren. Denn, wer hatte sich nicht irgendwann schon einmal gefragt, was ein Weihnachtsbaumverkäufer im Rest des Jahres so macht? Lara wollte der Sache auf den Grund gehen, wollte den Menschen zeigen, wer der nette alte Mann mit seinen besonderen Bäumen wirklich war. Die Idee war ihr am Morgen gekommen, als sie die Tanne aufgestellt und geschmückt hatte. Perfekt! Der Baum war einfach nur wunderschön, etwas Besonderes. Schon wieder.
„Ein Artikel über einen Weihnachtsbaumverkäufer? Ich weiß nicht ...“
Henry, ihr Redaktionsleiter, kratzte sich an der Glatze - da, wo er noch keine Falten hatte. Dabei sah er sie durch seine Hornbrille an, als hätte sie einen Mülleimer über den Schreibtisch ausgeleert.
„Und an welchen Verkäufer hast du da gedacht?“
Lara beschrieb ihm, wo der Platz war, und erzählte ihm, welches Glück sie dieses Mal und im Jahr davor mit ihren Bäumen hatte.
Henry lachte.
„Du meinst doch nicht den alten Gregory, oder? Der steht da jedes Jahr. Das war schon so, als ich noch ein Kind war.“
„Du kennst ihn?“, fragte Lara nach.
„Ich nicht, nein. Aber meine Großmutter kannte ihn, wenn ich es mir recht überlege. Erstaunlich, dass es den Kerl noch gibt. Er muss sehr alt sein. Und richtig gute Geschäfte macht er da sicher auch nicht - ausgerechnet an diesem Platz.“
„Was meinst du damit?“
Henry lehnte sich mit einem heftigen Quietschen in seinen Schreibtischsessel zurück und winkte ab.
„Ach, die alten Leute. Meine selige Großmutter hat mir erzählt, dass dort früher ein Brunnen war, der Sangius-Brunnen. Einen ‚bösen Ort‘ hat sie den Platz genannt und mir verboten, dorthin zu gehen. Bei vielen hier in der Gegend sitzt der Aberglaube eben tief. Und solange es andere Weihnachtsbaumverkäufer gibt ...“
Lara nickte. Ihr Gespür hatte sie nicht betrogen: Das war eine Geschichte. Sicher hatte der alte Weihnachtsbaumverkäufer viel erlebt in all den Jahren. Gutes und Böses. Was bewegte ihn? Was mochte er oder auch nicht? Warum verkaufte er noch immer an diesem Ort? Und was tat er, wenn nicht gerade Adventszeit war?
Ohne etwas zu sagen, drehte sich Lara um - in Gedanken schon längst bei ihren Nachforschungen. Es musste doch etwas geben über Gregory und diesen Brunnen. Irgendwas.
„Von mir aus kannst du die Geschichte gerne machen“, rief ihr Henry hinterher. „Falls dich meine Meinung als Redaktionsleiter überhaupt interessiert“, fügte er kopfschüttend und deutlich leiser hinzu. Denn Lara hatte sein Büro schon längst wieder verlassen.

Sie fand ein Schwarzweiß-Foto im Archiv. Es war tief vergraben unter einem Stapel anderer Bilder und Dokumente - in einer der unteren Schubladen. Der Rand war gezackt und gelb, das Papier gewellt. Das Foto zeigte Gregory. Mürrisch stand er neben einem Stapel verpackter Bäume, stützte sich auf einen abgesägten Stamm. Er trug denselben abgewetzten Mantel, den er auch an dem Tag anhatte, an dem Lara ihren Baum gekauft hatte. Seine dicke Nase war rot, seine traurigen Augen klein und schmal. Und er sah auch sonst genauso aus, wie Lara ihn in Erinnerung hatte. Aber trotzdem konnte da gehörig etwas nicht stimmen. Denn dem Datum nach war das Foto vor mehr als 70 Jahren aufgenommen worden. Das konnte nicht sein. Jemand hatte es wohl falsch einsortiert. Lara legte es wieder zurück und schloss die Schublade. Das Archiv der Zeitung brachte sie nicht weiter. Niemand hatte bisher über Gregory etwas geschrieben. Und auch das Foto, so hatte sie herausgefunden, war nie gedruckt worden.

Der rätselhafte Sangius-Brunnen aus Mark Lanvalls "Die Frage, die niemand stellte". Grafik: IVE

Lara konzentrierte ihre Nachforschungen nun auf den Sangius-Brunnen. Einen „bösen Ort“ hatte Henry ihn genannt, einen, vor dem sich seine Großmutter und andere gefürchtet hatten. Und tatsächlich fand Lara in der Stadtbibliothek ein paar Aufzeichnungen darüber und sogar eine Zeichnung: Sie stellte den Brunnen als ungewöhnlich breites, aber unscheinbares Bauwerk dar - mit einer flachen Umrandung aus gehauenen, grauen Steinen. Obwohl er nicht tief war und sein Wasser gut, nutzten die Bürger der Stadt ihn schon im 19. Jahrhundert nicht mehr, so erfuhr Lara. Leitungen hatten die Wasserversorgung der Stadt übernommen. Nach dem Krieg wurde er schließlich zugeschüttet und seine Steine anderswo verwendet. Das war soweit reichlich uninteressant für ihre Geschichte, fand Lara.

Dann aber stieß sie auf ein vielversprechendes Buch. Es war ein alter, dicker Schinken aus dem vorherigen Jahrhundert. Er roch nach altem Papier. Der Einband war speckig und grau, die Ecken abgestoßen. Das Titelbild zeigte sechs Menhire, Hinkelsteine, die inmitten einer Waldlichtung im Kreis angeordnet waren. „Märchen und Mysterien“ stand darunter in dicken Lettern. Der Autor, ein längst verstorbener Geschichtsprofessor, hatte in dem Buch allerlei Sagen und rätselhafte Geschichten aus diesem Teil des Landes zusammengefasst. Und tatsächlich. Eine davon war mit „Die Tat am Sangius-Brunnen“ überschrieben. Laras Herz schlug schneller. Sollte sie hier etwas über den Aberglauben erfahren, der wohl noch immer Leute davon abhielt, bei Gregory Bäume zu kaufen? Sie setzte sich an einen kleinen Tisch, der in der Bibliothek abseits der vielen vollgestopften Regale stand. Das schleifende Geräusch zerriss die Stille, als sie mit dem schweren Stuhl näher an das Buch heranrückte. Fahles Licht fiel durch eines der hohen, schlanken Fenster - gerade genug, um ohne Lampe auskommen zu können. Dann las Lara:

 

Es begab sich eines Wintermorgens im Jahr 1826, dass die Witwe Baskins mit ihren drei Kindern loszog, um Weihnachtserledigungen in der Stadt zu machen. Viele Monate hatte sie gespart und so war ihre Börse reich gefüllt. Über die Festtage sollten es die Kinder schön haben. Sie sollten satt und glücklich sein. Einen feinen Braten erstand die Witwe, Kuchen und gutes Brot. Doch als sie, um Geschenke und Tand zu kaufen, in den Krämerladen kam, sah sie, dass all die Waren um ein Vielfaches teurer geworden waren. Der Händler, ein brummbäriger Mann, der erst im Jahr davor den Laden gekauft hatte, wollte sein Geschäft mit der Adventszeit machen. Und da er der einzige Krämer im Ort war, fluchten viele Leute zwar, aber griffen dennoch tief in ihre Börse. Nicht so die Witwe Baskins. Sie stritt mit dem Händler, nannte ihn einen Halsabschneider. Schließlich drohte sie ihm, sie würde noch am selben Tag den Wagen anspannen und im Nachbarort groß einkaufen - für sich und alle anderen Menschen, denen sein Wucher ein Graus sei. Und tatsächlich: Das tat die Witwe Baskins. Der Händler war außer sich vor Zorn. Und er hatte Angst. Was, wenn die Witwe ihren Plan in die Tat umsetzte? Würden die Leute dann noch bei ihm einkaufen? Würde er weiter so viel Geld verdienen können? Er beschloss, die Baskins zur Rede zu stellen, ihr zu drohen. Am Sangius-Brunnen lauerte der Händler ihr auf, als sie und ihre Kinder aus dem Nachbarort zurückkamen, den Wagen vollbepackt mit schönen Dingen.
Was dann geschah, weiß niemand genau zu sagen. Doch vieles deutet daraufhin, dass es zu einem heftigen Streit kam, der ein böses Ende nahm. Denn am Tag nach dem vierten Advent fand man sie im Brunnen: Die Witwe und die drei Kleinen. Grausam zugerichtet waren ihre Körper und voller Blut. Eine Mordtat, die in jener Zeit ihresgleichen suchte und den ganzen Landstrich in ihren Bann zog. Schutzpolizisten und Freiwillige durchkämmten die Gegend nach dem Krämer, dessen Name Gregory Brooks war. Doch nach der grausigen Tat hat ihn niemand mehr gesehen. Manche glaubten, er sei in ein fernes Land geflohen. Andere erzählten, die Witwe habe ihn bei ihren letzten Atemzügen verflucht. Als Geist sei er verdammt, am Sangius-Brunnen zu verweilen, um arglose Wanderer heimzusuchen.“

 

Lara fröstelte. Sie klappte das Buch zu und schlang ihre Arme eng um die Schultern. War es so kalt geworden in der Stadtbibliothek? Oder lag es an dieser Geschichte? Sie ging Lara nahe, sie machte ihr Angst. Zwar glaubte sie nicht an Geister. Und trotzdem: Gregory Brooks, der mörderische Krämer. Gregory, der mürrische alte Weihnachtsbaumverkäufer. Das alte Foto. Einzelne Gedanken verbanden sich in ihrem Kopf zu einer unfassbaren Idee. Sie fragte sich allmählich, ob ... Aber nein. Das war nicht gut. Überhaupt nicht gut. Sie sollte sich ein anderes Thema für eine Weihnachtsgeschichte suchen - und einen anderen Weihnachtsbaum. Vielleicht, dachte Lara, gab es ja Fragen, die besser niemand stellte.

 


LICHTSTURM

 

Die Geschichte der Albenkriegerin Larinil, des gescheiterten Adelssprosses Ben und des Nerds Maus wird in  „Lichtsturm - Die weiße Festung“ und in „Lichtsturm II – Die andere Welt“ erzählt. Die Fantasy-Thriller gibt es als ebook und als Taschenbuch.